Es war eine intensive und anregende Reise voller Staunen und Erstaunen in die Werke, Welten und Kunst von Anke Feuchtenberger. Eine Reise der Erinnerungen und Metaphern, des Schlafs und des Wachseins, der Natur und der Menschheit, der organischen und anorganischen Materie, die sich auf dem Papier treffen und etwas Neues schaffen. Der Abschluss dieser Reise konnte nur ein Treffen sein, zuerst via Zoom und dann persönlich in der Kunstanasammlungs Jena bei der Eröffnung der Ausstellung Der 7. Brunnen der Künstlerin Kerstin Grimm, Feuchtenbergers Freundin und Kollegin: ein Treffen, das den Wert des Künstlers um den des Menschen ergänzt, freundlich, leutselig, offen und bereit, ihre Zeit zu spenden und über ihre künstlerische und persönliche Reise nachzudenken. Hier ist die letzte Tür, die sich in Anke Feuchtenbergers Palast öffnet, die Tür zum Leben und Denken der Künstlerin. Viel Spaß beim Besuch.
Lassen Sie uns mit Ihren frühen Jahren und Ihrem künstlerischen Werdegang beginnen. Sie sind in der DDR geboren und aufgewachsen und haben dort Ihre ersten Schritte als Künstlerin gemacht. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit und das kulturelle Umfeld, besonders an das Kollektiv PGH Glühende Zukunft? Damals haben Sie alles Mögliche gestaltet, von Theaterplakaten und Spielplänen bis hin zu Illustrationen für politische und kulturelle Veranstaltungen. Dabei waren ja bereits erste Comics Elemente zu erkennen.
Das Besondere an dieser Zeit waren für mich wohl die vielen Zufälle, die zusammenkamen. 1988 habe ich mein Studium abgeschlossen und kurz darauf mein Kind bekommen. Meine Beteiligung an der Bewegung, die vor dem Mauerfall im Untergrund aktiv war, beruht auf den Fragen die sich mir durch die Geburt meines Kindes stellten: Wie wird die Zukunft für mein Kind aussehen? Wie werde ich als Mutter in der DDR leben können? Die DDR war bis dahin für mich einfach mein Heimatland. Aber mit der Frage nach der Zukunft und mit dem Abschluss des Studiums wurde mir plötzlich klar, dass ich wahrscheinlich keine Chance haben würde, zu veröffentlichen, dass ich keine Idee hatte, wieviel Vertrauen ich in die sozialen Kindereinrichtungen der DDR hatte. Ich überlegte, irgendetwas zu machen, das nicht auffiel. Ich beschäftigte mich mit Bildhauerei, Kinderbüchern und Plakaten, aber mir war schon klar, dass ich die Plakate nicht so hätte veröffentlichen können, wie ich es gerne gewollt hätte, weil ich nicht sehr angepasst war und es vielleicht immer noch nicht bin. Es fällt mir heute noch schwer, mich irgendwie auf zu klare Vorsterllungen von der Erfüllung von Aufträgen einzulassen. In dieser Zeit fing ich an, mit Freundinnen und Freunden über alternative Konzepte nachzudenken – noch mitten im Sozialismus. Wir befragten uns besonders in Bezug auf die Vorstellungen von Kindererziehung. Auch das Thema der Benachteiligung der Frauen in der Gesellschaft beschäftigte mich sehr. Dazu war ich auf illegalen Veranstaltungen in kirchlichen Räumen aktiv. In dieser Zeit wurde auch die PGH Glühende Zukunft gegründet, ausgehend von Henning Wagenbreth, mit dem ich zusammen studiert habe. Dort kamen verschiedene künstlerische Interessen zusammen. Die Männer interessierten sich mehr für die aufregende Tagespolitik, während ich mich mehr mit der Idee beschäftigte, wie das Leben in der Zukunft mit Kindern aussehen könnte, sowie mit Themen rund um Frauen, Mütter, Familie. Danach haben wir in einer Fahrradwerkstatt, die in Hennings Haus war, Flugblätter gedruckt. Mein Diplom war bereits auf Anregung der Geschehnisse in der Sowjetunion entstanden, es war die Zeit der Perestroika, die durch Gorbatschow in Gang gesetzt wurde, der für mich damals irgendwie ein Held war. Die Veränderungen in der Sowjetunion empfand ich als sehr ermutigend und sehr wichtig als Vorbild für uns in der DDR. Dadurch herrschte eine Aufbruchsstimmung, die schon vor dem Fall der Mauer stark spürbar war. Dann, im Sommer 1989, als immer mehr Menschen über Prag und Budapest aus der DDR flohen, saß ich mit meinem Kind auf dem Schoß und fragte mich: „Bleiben wir jetzt hier allein zurück? “ Denn ich wusste, dass ich mit einem Kind niemals einfach weggegangen wäre. Im Grunde genommen gingen wir als Gruppe bei unseren künstlerischen Aktivitäten, immer davon aus, dass der Sozialismus an sich eine gute Gesellschaftsordnung ist, die nur verändert werden muss im Sinne einer Art Perestroika. Überrascht vom Fall der Mauer, war erst Mal die Utopie zu Ende, was möglicherweise an revolutionärer Kraft in die Massen hätte gehen können.
Ich hatte das Gefühl, dass plötzlich nur noch der Konsum zählte und die Menschen in den Westen gingen, um einzukaufen, weil es endlich alles zu sehen und zu kaufen gab. Wir haben bis 1994 unsere Gruppe weiter betrieben. Aufgrund der Plakate und Bilder, die ich in dieser Zeit machte, bekam ich plötzlich viele Anfragen, vor allem von freien Theatergruppen, die haupotsächlich von Frauen betriueben wurden. Plötzlich kam ich dem Theater sehr nahe und hatte in kurzer Zeit viele Plakate entworfen und veröffentlicht. Oft ohne Geld, abeer mit grosser Freude. Es war eine verrückte Zeit, aufregend, aber auch bedrohlich. In der DDR war ich als junge Künstlerin einigermaßen geschützt. Die Mieten waren niedrig, Bücher kosteten nicht viel. Es gab Unterstützung für alleinerziehende Mütter. Doch nach dem Mauerfall war plötzlich alles weg. Das Geld war nichts mehr wert, ebenso wenig die Versicherungen und vieles, was ich gelernt hatte war plötzlich “altmodisch”. Alles wurde infrage gestellt. Das war ziemlich aufregend und ermutigend, weil ich plötzlich eine Zukunft mit meiner Kunst hatte. Ich konnte plötzlich veröffentlichen und an einem öffentlichen Diskurs teilnehmen, was mir vorher nicht möglich gewesen war.
In mehreren Interviews haben Sie erwähnt, dass Sie recht spät zu Comics gekommen sind. Wie hat sich das entwickelt, und was waren Ihre Einflüsse?
Ja, das stimmt. Ich habe immer gesagt, dass ich erst mit 26 meine ersten richtigen Comics gesehen habe. Das war aber nicht ganz wahr, wie ich später festgestellt habe. In der Bibliothek meiner Eltern standen Faksimile-Ausgaben von Rudolf Toepffers Bildgeschichten, die ich schon als Kind durchgeblättert habe. Ich war fünf und konnte noch gar nicht lesen, aber ich liebt sie sehr. Aber ich habe das nie als Comic gespeichert, denn das wurde auf Französisch als „Graphique Nouvelle“ bezeichnet und nicht als Comics. Es war interessant zu sehen, wie dieser Begriff später wieder modern wurde.
Später entdeckte ich dann in Berlin den Comicladen „Grober Unfug“, dort habe ich mich dann zum ersten Mal wirklich von dieser Fülle und Masse der Bilder und Comics überwältigen lassen. Ich dachte zunächst, das sei alles nichts für mich; ich mochte diese Gesichter mit den Knollennasen und den Glubschaugen nicht(lacht). Mir fehlte die Schönheit darin, etwas, das mir damals sehr wichtig war. Aber dann stieß ich auf Künstler wie Jacques de Loustal und Marc Bayer. Ich hatte das Gefühl, deren Grafik kommt mehr meiner eigenen Vorstellung von Zeichnerei nahe. Plötzlich war eine Tür offen, und ich dachte, dass das Medium Comic auch eine Potenz für mich haben könnte.
Ich habe damals viel für das Theater gearbeitet: Programmhefte, Kostüme und Plakate gemacht. Es war immer der Wunsch, über die Plakatarbeit hinauszugehen, die ja immer nur ein Bild produziert hat, und den erzählerischen Fluss der Literatur, des Dramas, stärker in meine Arbeit einzubringen. So begann ich ganz vorsichtig, in den Programmheften kleine Bildgeschichten zu erfinden. Natürlich waren das Adaptionen der jeweiligen Stücke, aber das waren meine ersten Versuche. In dieser Zeit begann ich dann auch Comics über mein alltägliches Leben zu zeichnen. Ich erfand Figuren wie BÄRMI&KLETT- eine Frau und ihr Kind, welches ihr auf dem Rücken festgewachsen ist. Nach wie vor mochte ich keine Sprechblasen und Knollennasen, aber je mehr ich mich mit bden Mitteln des Comics eschäftigte, umso offener wurde ich und fand mich in einer Gruppe wieder, die alle sehr stark mit diesen Mitteln des Comics arbeiteten.
Hatten Sie später, als Sie mit dem Zeichnen von Comics begonnen haben, auch neue Einflüsse?
Julie Doucet, Renee French, Nicole Claveloux waren Künstlerinnen im Comic, die mich inspirierten. Ich hatte leider überhaupt kein Geld zu der Zeit, war teilweise auch als arbeitslos gemeldet, weil ich mit einem kleinen Kind alleinerziehend überhaupt keine Chance hatte, irgendwie mit meiner Arbeit zu überleben, und konnte mir also auch keine Comics kaufen. Ausserdem fand ich meine Interessen und Anregungen stark in mehreren anderen Bereichen. Musik, Theater, Literatur, hauptsächlich Literatur. Der Comic war ja doch noch ziemlich unterentwickelt- es fehlten die Frauen. Ich habe unglaublich viel gearbeitet, meistens nachts- tagsüber war ich mit meinem Kind unterwegs- und nachts habe ich versucht meine eigenen Geschichten zu entwickeln. Ich war noch nicht 30, mein Kind und meine Arbeit war mir wichtiger als alles andere. Ich hatte natürlich ein Studium im Back; ich habe Grafikdesign studiert und aber mich mehr mit freier Grafik, Zeichnung, Bildhauerei beschäftigt. Illustration gab es kaum als Lehrfach in meinem Studium. Insofern hatte ich schon ein gutes zeichnerisches Handwerk. Es war nur so, dass die Comics an sich, die klassische Comickultur, mich immer noch nicht so interessiert haben. Ich wollte nichts nachmachen. Ich wollte meine eigene Stimme finden. Dabei ließ ich mich weniger von der klassischen Comic-Kultur inspirieren, sondern mehr von der Literatur.
Ich würde gerne über Ihre Technik und Ihren Stil sprechen, aber zunächst möchte ich mit einer einfachen und vielleicht gleichzeitig schwierigen Frage beginnen: Was bedeutet Zeichnen für Sie? Und wie entstehen Ihre Geschichten? Ich habe in einigen Interviews von Ihnen gelesen, dass Ihr kreativer Prozess sowohl etwas Körperliches als auch etwas Konzeptionelles ist, das in großformatigen Werken noch intensiver zum Tragen kommt. Ist das Zeichnen also auch eine Katharsis des Körpers und des Geistes?
Ja, ich glaube, Zeichnen hat die Kraft, Lösungen für Probleme zu finden, was mir zuvor völlig unbekannt waren. Das ist auch heute noch so. Oft fühle ich mich verzweifelt, weil ich nicht an das herankomme, was ich wirklich ausdrücken möchte. Aber dann weiß ich, dass ich einfach zeichnen muss. Durch das Zeichnen wird das, worüber ich die ganze Zeit nachgedacht habe und was ich versucht habe zu konstruieren, auf neue Weise sichtbar. Ich muss mich darauf einlassen. Es ergibt für mich wenig Sinn, im Vorfeld detaillierte Konstruktionen zu entwickeln und diese dann einfach abzubilden. Ich brauche die Auseinandersetzung im Schaffensprozess. Für mich ist Zeichnen nicht nur eine Technik; ich meine das Machen an sich, sei es Malerei, Zeichnung oder das Arbeiten mit verschiedenen Materialien. In jedem Fall ist das Machen der Schlüssel. Es geht darum, herauszufinden, ob die Ideen oder Fragen, die ich mir stelle, in die Realität umgesetzt werden können und mir im Prozess dere Arbeit neue Fragen dazu entstehen. Antworten sind eher selten. Manchmal habe ich das Gefühl, ich stelle mir absurd anmutende Fragen und kämpfe um die Lösung, als ginge es um mein eigenes Überleben. Das ist ein bisschen verrückt, weil ich vorher nicht wusste, dass ich so tief in bestimmte Problematiken eintauchen würde. Aber wenn sich das Ganze am Ende im Bild auflöst und das Bild stimmt, also das Bild ein Abbild des Arbeitsprozesses ist, mit zufälligen Veränderungen, Verwandlungen aus einer Bildnotwendigkeit heraus, bin ich sehr glücklich. Dann denke ich, dass es sich gelohnt hat, bei der Frage zu bleiben und nicht bei der anfänglichen, ausgedachten und theoretischen Konstruktion. Um auf die erste Frage zu antworte, was das Zeichnen für mich ist: Es belehrt mich immer wieder eines Besseren. Wenn ich glaube, etwas zu wissen, dann wirft mich die Zeichnung auf eine demütige Haltung zurück. Immer wieder akzeptieren zu müssen, dass ich etwas nicht kann und nicht weiss und nach Wegen zu suchen, wie ich bestimmte Probleme trotzdem lösen kann.
In Ihrer Karriere haben Sie viele Stile verwendet. Am Anfang waren es mehr die klare Linie, ein geometrischer Strich und Perspektiven aus ungewöhnlichen Blickwinkeln, und später die Kohle, die Ihnen eine ganz eigene Hell-Dunkel-Atmosphäre verlieh. Diese Stile sind stets aus den Fragen entstanden, die Sie sich gestellt haben. Wie beeinflussen diese Fragen Ihren Zeichenstil? Ist der Stil immer eine Antwort auf die Fragen, eine Art Forschung, um Lösungen zu finden?
Während meines Studiums habe ich viel mit Kohle gezeichnet, sie war mein absolutes Lieblingsmaterial. Nach dem Studium begann ich, kleinere Formate mit Tusche zu zeichnen, oft in einem expressionistischen, holzschnittartigen Stil. Während des Studiums war es in der DDR wichtig, starke Schwarz-Weiß-Kontraste zu erzeugen, da Drucktechniken oft keine guten Grauwerte oder Farbdrucke ermöglichten. Deswegen war es sehr wichtig, dass man knallhart schwarz/weiß Strichzeichnungen macht und das hab ich halt gelernt. Und ich hab gedacht, ich müsste das so weitermachen, gerade auch wenn ich Comics zeichnen will, mich in dieser Tradition zu bewegen. Doch irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sich dieser Stil für mich schnell erschöpfte. Und irgendwann, als ich merkte, dass so viele Leute in die Richtung unterwegs waren, hat es mich genervt und ich fühlte, dass ich angefange, mich selbst zu wiederholen. Dass die Auftraggeber:innen immer wieder denselben Still für die Lösung von Aufgaben vorsahen. Das machte mir keinen Spaß mehr. Ich wusste, ich musste etwas ändern. Viele Leute sagten mir, dass mein Stil damals stark wiedererkennbar sei, und das störte mich. Mir ging es nie um den Stil an sich; es ging mir um das Erzählen und darum, wie eine besondere Atmosphäre entstehen kann. Also wandte ich mich wieder meiner Liebe zur Kohle zu. So kehrte ich zur Kohle und zum Bleistift zurück. Inzwischen war es auch technisch möglich, diese Arbeiten sehr fein zu reproduzieren, grosse Zeichnungen waren plötzlich gut zu reproduzieren, was für uns Zeichnerinnen eine ganz neue Perspektive eröffnete.
In Ihrer Arbeit spielt nicht nur das Zeichnen eine Rolle, sondern auch der Text, der Teil der Zeichnung selbst wird. Sie haben viel mit verschiedenen Schriftstilen gearbeitet. Woher kommt Ihr Interesse an Typografie?
Ich muss sagen, dass mir das Studium der Gebrauchsgrafik in der DDR, also des Grafikdesigns, nicht wirklich gefallen hat. Ich hatte viele Streitigkeiten mit meinen Professoren, die autoritär waren, und es gab heftige Diskussionen.
Da ich kein Interesse an Schriften hatte, zeichnete ich sie schließlich selbst. Wenn ich schon kein Interesse an Schriftsatz, damals noch Bleisatz hatte, musste ich einen Weg finden, Schriftarten zu entwickeln, die wie Zeichnungen wirken. Bis 1997 oder vielleicht sogar bis 2000 habe ich Plakate gestaltet und war ziemlich froh darüber, unabhängig vom technischen Schriftsatz zu sein. Ich entwickelte handgezeichnete Schriften einfach selbst. Was früher im Studium eine mühselige Aufgabe war, wurde plötzlich zu einer faszinierenden Herausforderung.
Dank dieser Ausbildung hatte ich ein gutes Fundament in traditioneller Schriftgestaltung, und dann fing es an, mir wirklich Spaß zu machen. Das habe ich weiterentwickelt und versucht, es auch in meinen Comics zu nutzen, sodass die Schrift wirklich mit den Zeichnungen harmoniert, ihre Eigenart beibehält und nicht im technischen Schriftsatz untergeht.
Heute setzen viele Künstlerinnen und Künstler ihre eigene Handschrift in ihre Werke ein, aber damals war das noch ungewöhnlich. Oft wurde mir vorgeworfen, dass meine Schrift schwer lesbar und merkwürdig aussah, aber genau so entstand mein persönlicher Stil.
Ein zentrales Thema in Ihrer Arbeit ist der Körper, insbesondere der weibliche Körper. Sie haben gesagt, dass der Körper manchmal eine politische, manchmal auch eine natürliche Darstellung ist. Warum ist der Körper für Sie so wichtig?
Ich habe jahrzehntelang Aktzeichnungen gemacht, schon sehr früh, und wusste damals nicht, warum ich das tat. Ich dachte, es gehöre einfach zu einer akademischen Ausbildung, dass man menschliche Körper zeichnet. Genauso gerne habe ich Tierkörper gezeichnet. Ich glaube, es geht mir nicht nur um den Körper an sich, sondern um ihn als räumliches Gebilde. Der Körper ist der Ort unserer Erfahrungen, von den Frühesten bis zu den Gegenwärtigen. Es ist ein lebendiger Raum, ein Ort, der vergeht, wenn wir sterben. Deshalb interessiert mich, was in diesem Ort passiert und wie sich die Vergangenheit im Körper manifestiert. In meinem neuen Buch geht es im Grunde genommen, auch wenn der Körper nicht explizit dargestellt wird, immer um die Vergangenheit, die sich im Körper manifestiert, sowie um den Wunsch nach ewigem Leben und so weiter.
Als ich begann, Comics zu zeichnen, hatte ich den ganzen Tag mein kleines Kind auf dem Arm. Diese symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind war für mich eine tiefgehende körperliche Erfahrung. Eine Art symbiotische Beziehung, die sich zwischen den Körper entwickelt, sodass man gar nicht mehr merkt, dass man zwei ist. Das war der Ausgangspunkt meiner Erzählungen. Ich denke, dass der Körper, der Raum und das Erzählen miteinander verbunden sind. Wenn ich auf die Realität des Körpers zurückkomme, können auch leichter gesellschaftliche Machtverhältnisse , die mit liebesromantischen Beschreibungen verbrämt werden auf gedeckt werden.
In Ihrer Arbeit vereinen Sie weibliche Erfahrungen: Sinnlichkeit, Mutterschaft und auch Dinge, die Männer nicht erleben können. Es ist eine ständige Interpretation dieser wiederkehrenden Elemente. Wie hat sich Ihre Interpretation des weiblichen Körpers im Laufe der Zeit entwickelt?
Ich muss vielleicht sagen, dass es ein ziemlicher Schock war, als die Mauer fiel und der Zugang zu Bildern des weiblichen Körpers plötzlich ganz anders war – Modezeitschriften, Pornografie, Werbung und so weiter. Das war natürlich ein erheblicher Schock für Menschen, die so etwas vorher nicht gesehen hatten. Ich selbst habe kaum Fernsehen geschaut. Diese Bilder hatten in meiner Bilderwelt also keine Präsenz. Und das war für mich ein großer Schock, denn ich hatte den Eindruck, dass dies ein Rückschritt war. Im sogenannten Sozialismus, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Vorstellung von Schönheit, die vielleicht offener war, nicht so festgelegt auf das Werbe-Schönheitsideal, das plötzlich überall zu sehen war. Wie eine Flut drangen die neuen flachen farbigen Riesenbilder von geschönten Gesichtern und Körper in die graue Stadt Ost-Berlin. Gegen diese Flut wollte ich mich wehren. Ich wollte unbedingt ein eigenes Bild von Frauen schaffen, und dafür musste ich mich weit aus dem Fenster lehnen. Ich wurde dafür hart kritisiert. Aber ich konnte nicht ertragen, dass meine Freundinnen und ich sich plötzlich hässlich fühlen sollten. Sie/ich waren verunsichert durch diese Frauenzeitschriften, und haben eine eigene gegründet, die für mich immer noch eine schöne Alternative wäre. Ypsilon hiess diese Zeitung. Dort gab es den Versuch, sich zu wehren und ein andersartiges Bild von Schönheit zu erfinden.
Und das mache ich bis heute. Ich weiß nicht, ob Sie es gesehen haben, aber im Moment läuft der Film Die Unbeugsamen, Teil zwei: Guten Morgen, Du Schöne, ein Dokumentarfilm über DDR-Frauen. Ich bin übrigens auch mit meiner Großmutter darin zu sehen. Eine Freundin von mir bemerkte einmal: „Mensch, wir waren in der DDR alle so hässlich, wenn man das heute sieht.“ Es ist wirklich ironisch, dass der Film „Guten Morgen, ihr Schönen“ heißt, obwohl die Frauen auf den Bildern so “schrecklich” aussehen.
Ich antwortete: „Ich finde das überhaupt nicht hässlich.“ Diese Frauen haben ihr Leben lang gearbeitet, die Fotos sind schwarz-weiß, es gab keine modischen Kleider zu kaufen, sie trugen Kittelschürzen, aber in diesen Körpern steckt für mich so viel Leben und Erfahrung, dass ich sie nicht als hässlich bezeichnen kann. Für mich ist das Lebendige immer schöner als eine künstliche Schönheit. . In dem Film konnte ich sehr schön anhand der alten Schwarzweiss Fotos von Arbeiterinnen sehen, welches Schönheitsideal mich geprägt hat. Das der arbeitenden Frau. Der klugen Prinzessin.
Wie gesagt, hat sich das im Laufe der Zeit etwas entwickelt und verändert. Zum Beispiel waren die Körper in Ihren ersten Arbeiten sehr stilisiert, während sie jetzt in gewisser Weise weiterentwickelt sind. Aber im Grunde bleibt die Interpretation für Sie immer dieselbe, nur mit verschiedenen Elementen, oder?
Ich denke, dass die stark stilisierten Körper für mich ein Versuch waren, ins Extrem zu gehen, sich vehement gegen das klassische Schönheitsideal zu wehren. Mit der weichen Kohle konnte ich viel sanfter arbeiten, ebenso mit dem Bleistift. Dadurch habe ich mich auf andere Körperformen eingelassen, bei denen es nicht mehr nur um stilistische Aspekte ging, sondern stärker um die Erzählung und die Atmosphäre, die ich für die Geschichte brauchte. Mit der starken Stilisierung kam ich nicht mehr weit; sie war reproduzierbar, aber mir fehlte das Gefühl für den Raum. Also habe ich mich stärker auf den Raum konzentriert, in dem die Figuren existieren.
Die stilisierten Körper stehen oft allein, und der Raum und die Erzählung war nicht so wichtig. Doch jetzt spielt der Raum eine viel größere Rolle, was für mich einen bedeutenden Schritt darstellt. Meine Arbeit ist eine ständige Entwicklung; ich möchte mich nicht langweilen und entdecke gerne Neues. Daher war es mir wichtig, mit natürlichen einfachen Materialien und Ideen zu experimentieren und zuzulassen, dass sich vieles verändert. Zu Beginn der 90er Jahre hatten meine Figuren etwas Kindliches, doch jetzt bin ich Großmutter, und die Körper verändern sich mit mir. Das ist also auch eine Entwicklung.
Sie haben von der Atmosphäre gesprochen, die für Ihre Werke charakteristisch ist. Oft wirken Ihre Atmosphären traumähnlich, metaphorisch, manchmal kryptisch, aber auch märchenhaft – wie seltsame Märchen. Wie wichtig sind diese beiden Elemente – Traum und Märchen – für Sie?
Der Traum selbst ist für mich nicht so bedeutsam. Ich habe einmal ein Buch gemacht, in dem ich versucht habe, meine Träume zu zeichnen. Danach hatte ich das Gefühl, dass meine Träume es mir übel nahmen, weil ich eine Weile nicht mehr träumen konnte, was ich als ziemlich schlimm empfand. Da dachte ich: „Oho, das ist eine heikle Sache.“ (lacht) Man kann die Träume nicht so gut darstellen, wie sie wirklich sind. Es macht für mich keinen Sinn, meine Träume zu zeichnen.
Stattdessen wollte ich so zeichnen, als würde ich träumen – mich also beim Zeichnen in einen Zustand zu versetzen, der alles zulässt, ohne zu viel nachzudenken, ohne Storyboard, um in eine tiefere Bewusstseinsebene einzutauchen, in der archaische Welten unabhängig vom Tagesgeschehen entstehen können. Das verbindet sich vielleicht mit dem Märchen, wo Archetypen – der Wald, das Tier, die Frau, der Mann – auftauchen und die Dinge eine andere Zeitdimension haben. Deshalb sind meine Geschichten oft sehr langsam. Sie bestehen meistens aus zwei Bildern pro Seite, alles geschieht Schritt für Schritt. Es ist ein bisschen wie beim Träumen: wenn ich eine Geschichte beginne, habe ich das Gefühl, ich betrete einen Raum, schaue mich um, und dann beginnt die Erzählung. Ich weiß natürlich, jeder träumt ja anders, aber ich glaube, es gibt so eine Grundidee vom Traum, die wahrscheinlich immer auch mit einem Ort zu tun hat.
Ein weiteres zentrales Element Ihrer Geschichten ist die Natur. Besonders auffällig ist die Anthropomorphisierung, die Sie verwenden – Menschen als Tiere oder Tiere als Menschen. Warum ist Ihnen das so wichtig, und wie hängt das mit Ihrem Interesse an der Natur zusammen?
Erstmal sind wir Menschen auch Säugetiere. Wenn ich den Menschen nur psychologisch betrachte, erscheint mir das zu begrenzt, ich habe das Gefühl, das ist mir zu klein. Doch wenn ich den Menschen stärker als Lebewesen im Raum sehe, werden mir die Beziehungen klarer – zwischen Menschen und Tieren, zwischen Menschen, und zwischen Mensch und Raum. Das ist es, was mich interessiert: die Formung des Menschen durch seine Umgebung, zu der für mich unbedingt die Tiere gehören. Es ist eine überlebenswichtige Frage, wie wir mit Tieren und Pflanzen in dieser Welt umgehen. Das klingt jetzt sehr politisch, aber es ist der Versuch, diese Erfahrung von dem Zusammenhang, den ich hier erlebe, wo ich wohne, auszudrücken. Ich lebe auf dem Land und habe einen intensiven Kontakt zu Tieren, Pflanzen, Wald und Wasser. Das beeinflusst mich und darüber möchte ich erzählen. Mir scheint es wichtig, nicht nur die Psychologie des Menschen zu betrachten, sondern mehr auf das Archetypische dabei, zu schauen das uns mit anderen Lebewesen verbindet. Wenn ich mich darauf einlasse, dass ich auch ein Tier bin, fühle ich mich weniger allein. Dann habe ich das Gefühl, dass ich mit viel mehr Wesenheiten verbunden bin, als wenn ich denke, ich bin nur ein Mensch und als Mensch einzigartig. Sich in diesen Zusammenhang zu begeben hat einen magischen heilenden Charakter. Verwandlungen werden möglich und uns in der Tierwelt vorgelebt.
Die Larve, die Puppe, der Schmetterling, der Pilz, das Ei…..
Und jetzt kommen wir zum Genossin Kuckuck. Der erste Titel war ein deutsches Tier in einem deutschen Wald, also wieder das Thema Tiere. Es hat sehr lange gedauert, daran zu arbeiten. Wie war es für Sie, an einem Werk zehn Jahre lang zu arbeiten? Ich kann mir vorstellen, dass das nicht einfach war. Man musste vieles immer wieder machen, ändern und wieder ändern und so weiter. Wie war das für Sie? Denn zwischendurch haben Sie ja auch an anderen Projekten gearbeitet.
Ja,ich glaube, ich habe immer sehr viel gearbeitet, eigentlich viel zu viel. In dieser Zeit habe ich auch andere Bücher gemacht. Ich habe ein altes Haus ausgebaut, ich bekam Enkelkinder, und vor allem arbeitete ich an der Hochschule, was wirklich sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Es fällt mir immer schwerer, nach der Arbeit an der Hochschule nach Hause zu kommen und mich auf meine eigenen Projekte zu konzentrieren. Denn an der Hochschule spreche ich mit den Studierenden nicht über meine eigene Arbeit, sondern konzentriere mich vollkommen auf ihre Arbeiten. Manchmal habe ich mich dabei selbst ein wenig verloren. Wenn ich dann nach Hause kam, war ich völlig erschöpft, und es hat oft zwei Tage gedauert, bis ich mich wieder auf meine eigene Arbeit einlassen konnte, bis ich wieder wusste, was ich tun wollte. Das liegt natürlich auch an meiner Art zu arbeiten: Ich habe kein Storyboard, das ich einfach abarbeiten kann. Ich muss immer tief in die Arbeit eintauchen und den Kopf frei haben, um die Geschichte fortzusetzen.
Dann hatte ich das Gefühl, dass das Material sehr umfangreich ist. Ich habe eigentlich sehr leicht angefangen, mit einem Kapitel, das heute gar nicht mehr im Buch ist. Im Jahr 2009 habe ich einfach losgelegt, und dann merkte ich, dass ich dabei tief in die Vergangenheit ging. Das hat mich manchmal aus der Bahn geworfen. Es sind ja doch ziemlich heftige Themen, und es war nicht immer einfach, jedes Mal wieder daran anzuknüpfen und weiterzuzeichnen.
Ich habe zwischendurch auch Pausen eingelegt, einmal sogar ein ganzes Jahr, weil ich das Gefühl hatte, nicht weiterzukommen. Ich wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte. Doch obwohl die Arbeiten stilistisch sehr unterschiedlich sind, hatte ich immer den Plan, dass es ein ganzes Buch wird. Es war nie ein Fragment, sondern ich hatte immer das große Ganze im Blick. Wenn ich es dann aus den Augen verloren habe, brauchte ich eine Pause, um mich neu zu orientieren. Am Ende gestaltete sich die Situation als ziemlich herausfordernd: ich hatte all diese Kapitel und wusste nicht, in welcher Reihenfolge ich sie anordnen sollte. Die Reihenfolge, die ich ursprünglich gewählt hatte, gefiel mir nicht – sie erschien mir sehr zufällig. In diesem Moment kam meine Freundin Birgit Weyhe, Comiczeichnerin zu mir und sagte: „Pass auf, wir machen das jetzt zusammen.“ Sie entwickelte ein System, mit dem wir die Kapitel benennen konnten. Gemeinsam breiteten wir alles aus, diskutierten und sortierten neu. Als sie schließlich wieder abreiste, hatte ich meine Reihenfolge gefunden, und damit war ich sehr zufrieden. Ich brauchte tatsächlich Hilfe, denn über die Jahre hatte ich so viele Zeichnungen produziert, dass ich manchmal den Überblick verlor.
Niemand hat eine Wohnung, die groß genug ist, um alles auszubreiten, und am Computer kann man auch nicht alles gleichzeitig betrachten. Man bräuchte wohl eine ganze Reihe Computer, um all die Inhalte gleichzeitig zu sichten. Das waren sicherlich einige der Gründe, warum es so lange gedauert hat. Aber rückblickend bin ich froh, mir die Zeit genommen zu haben, auch wenn das vielleicht komisch klingt. In dieser Phase habe ich mich sprachlich und schriftstellerisch weiterentwickelt und viele neue Dinge entdeckt, die ich 2009 vielleicht noch gar nicht hätte umsetzen können. Es brauchte einfach Zeit.
Sie sprachen über die Texte und das Schreiben. Mir ist aufgefallen, dass der Text in diesem Werk eine ganz neue Dimension bekommen hat. Es gibt zahlreiche Zeichnungen, aber der Text spielt ebenfalls eine viel größere Rolle – etwas, das in Ihren früheren Arbeiten nicht so ausgeprägt war. Manchmal besteht ein Kapitel sogar nur aus Text. Wie sind Sie an das Schreiben dieser Texte herangegangen? Denn das war für mich eine interessante Neuerung, eine Weiterentwicklung in Ihren Arbeiten.
Das hängt mit dem Zeichnen zusammen. Ich fing zu zeichnen ab und schrieb parallel dazu ständig Texte. In dieser Zeit reiste ich viel, was ein weiterer Grund war, warum das Buch so lange in Anspruch nahm. Oft war ich mit meinen Arbeiten unterwegs und konnte auf Reisen nicht gut zeichnen, doch das Schreiben gelang mir überall – im Zug, im Flugzeug, wo auch immer. Schreiben kann ich auch draußen gut, und so habe ich einen Haufen Texte angesammelt. Als ich mich dann hingesetzt habe, um sie zu zeichnen, hatte ich das Gefühl, mich schrecklich zu langweilen, weil die Texte ja bereits vorhanden sind. – warum sollte ich sie noch zeichnen?
Und es gehörte für mich auch ein bisschen Mut dazu, zu sagen: „Okay, lass die Texte so, wie sie sind. Sie bleiben so, und du entwickelst die anderen Kapitel rein aus der Zeichnung. “ Das war also ein Schritt, zuzulassen, dass Texte eine andere poetische Bildwelt haben als Zeichnungen. Und es hat mir dann Spaß gemacht zu erkennen, dass die Zeichnungen andere Geschichten erzählen. Es passieren dann andere Dinge, und das finde ich einfach sehr spannend. Ja, und ich wurde auch von anderen ermutigt, die Texte so zu lassen, wie sie sind, und diesen Raum offen zu lassen.
Natürlich steckt in jedem Kunstwerk immer ein Teil des Künstlers, aber hier geht es noch einen Schritt weiter, weil es eine Geschichte über Kinder und das Aufwachsen in Ostdeutschland ist. Also, wie viel von Ihnen steckt in Kerstin und Effi? Wie viel Ihrer eigenen Erfahrung spiegelt sich in diesen beiden Hauptcharakteren wider?
In einem Interview habe ich mal gesagt: „Alles ist erfunden, und alles ist zu 100 % wahr.“ Das hat etwas mit dem Zeichnen und dem Körper zu tun. Ich kann die Realität nicht realistisch zeichnen, weil sie vergangen ist. Ich kann diese Geschichten nicht einfach nachzeichnen, also musste ich eine Welt erfinden, in der diese Dinge geschehen können. Und beim Zeichnen verändern sie sich. Es gibt keine Kerstin und keine Effi in meinem Leben. Viele Dinge, die im Buch vorkommen, gab es in meinem Leben nicht, und doch ist alles absolut wahr, weil alles, was gefühlt und getan wird, in gewisser Weise geschehen ist. Das Buch ist also autobiografisch, und gleichzeitig ist alles völlig erfunden, weil man es nicht so zeichnen kann, wie es wirklich war. Es war mir sehr wichtig, mich davon zu distanzieren, neue Figuren zu erfinden, die nicht genau wie ich sind, und damit über meine ureigensten Erfahrungen zu berichten. Indem ich Abstand zu den Figuren nehme.
Durch das Zeichnen und Erzählen kann man – wie soll ich das sagen – symbolisch die Hände in die Vergangenheit legen und vielleicht etwas verändern oder wieder gutmachen, was in der Realität nicht mehr zu ändern ist.
Zum Beispiel gibt es in der Geschichte diese Trennung zwischen Kerstin und Effi. Sie gehen zunächst in zwei völlig verschiedene Richtungen, und es scheint, als hätten sie sich verloren. Aber am Ende ist da etwas, das ihre Verbindung doch noch aufrechterhält. Auch wenn man denkt, die Beziehung sei komplett verloren, bleibt doch eine Beziehung bestehen. Und es geht vielleicht auch ein wenig darum, die eigene Vergangenheit zu modifizieren.
Es ist auch ein Versuch, zu verstehen, was die ersten Erfahrungen im Leben sind – die erste Liebe, die erste Freundschaft, das erste Bewusstsein für Körperlichkeit – und wie diese Erfahrungen unser ganzes Leben prägen. Es ist keine absolute Wahrheit, und ich verbreite hier keine Dogmen, sondern stelle die Frage, was im Leben noch Neues hinzukommen kann und wie stark alles von diesen ersten Erlebnissen bestimmt wird. Wie gestalten sich die fortlaufenden Erfahrungen im Erwachsenwerden? Und deswegen habe ich das zum Schluss ins Tierreich verlagert, wenn die beiden sich eventuell doch begegnen. Dass es also nicht mehr darum geht, ob sie sich als alte Frauen treffen, sondern dass es vielleicht stärker eine Begegnung auf einer anderen Ebene ist. Das fand ich fast wie ein Happy End, obwohl ich eigentlich keine glücklichen Enden zeichne, aber ich fand es ein bisschen lustig, dass ich auch ein Happy End zeichnen kann (lacht).
In einem Interview sagten Sie, dass es in diesem Werk viel um Gewalt geht. Gewalt zwischen den Generationen und verschiedene Arten von Gewalt sind immer präsent, auch wenn es nicht das Hauptthema der Geschichte ist. Was bedeutet die Auseinandersetzung mit Gewalt für Sie, und wie haben Sie dieses Thema in Ihrem Buch entwickelt?
Ich glaube, ich wurde stark von den Erzählungen über den Krieg geprägt, insbesondere durch meine Großmutter, da ich bei mehreren älteren Frauen aufwuchs. Diese Geschichten waren extrem präsent in meinem Leben. Manchmal hatte ich das Gefühl, selbst im Krieg gewesen zu sein, weil die Erzählung darüber in meiner Kindheit eine so zentrale Rolle spielten. Gewalt war in meiner Kindheit allgegenwärtig. Zu jener Zeit, das kann ich auch von vielen Freunden und Verwandten bestätigen, erlebten wir als Kinder und Jugendliche viel Gewalt, die einen normalen Teil des Lebens ausmachte. Später, als ich selbst Mutter wurde, versuchte ich zu verstehen, was damals wirklich passiert ist und ob man sich bewusst davon lösen kann. Wie tief verankert sich die Möglichkeit körperlicher Gewalt im Gedächtnis und im eigenen Handeln? Das war für mich eine sehr wichtige Frage, die mich auch vor und nach dem Mauerfall politisch aktiv machte, weil ich das Gefühl hatte, darüber müsse gesprochen werden.
Ein Beispiel ist das, was den Frauen 1945 bei der Befreiung vom Faschismus in Berlin und ganz Deutschland widerfahren ist – eine massive Gewalt, über die in meiner Familie nie gesprochen wurde. Diese Schweigepflicht galt nicht nur politisch, sondern auch innerhalb der Familien. Man sprach nicht darüber, dass man verprügelt wurde oder sexualisierte Gewalt erlebt hat. Heutzutage ist das mit Bewegungen wie #MeToo anders, aber damals herrschte ein extremes Schweigen, das, wie ich glaube, krank macht. In der Familie und in der Gesellschaft. Ich habe nicht versucht, Gewalt direkt zu erzählen, sondern vielmehr darzustellen, wie das Leben sich entwickelte – wie ich mich entwickelte oder auch meine Generation an diesem Ort zu jener Zeit.
Eine Frage, die mich beschäftigt: Welches Kapitel war für Sie das schwierigste zu realisieren, sei es thematisch oder in der Darstellung?
Ich glaube, die „rote Geschichte“, in der von meiner Großmutter und der Teekanne erzählt wird, war das Schwierigste. Dieses Kapitel trägt den Titel „Chinesisch Rot“. Es behandelt viel mit der Gewalt, die meine Großmutter, meine Elterngeneration und auch ich erlebt haben. Gleichzeitig geht es auch um Liebe. Ich habe meine Großmutter geliebt, und diese Ambivalenz zwischen Liebe und der Erfahrung von Gewalt ist sehr herausfordernd. Diese Ambivalenz verbindet sich mit Erfahrungen von Schönheit und Liebe, ebenso wie mit Abgrund und Gewalt, die natürlich deformierend wirken. Deshalb habe ich es mit Tusche gezeichnet, weil ich das Gefühl hatte, so schneller voranzukommen. Trotzdem war es schwierig. Ich habe viele Anfänge gemacht, weil ich nicht wusste, wie ich es darstellen soll. Letztlich habe ich es komisch und grotesk gezeichnet, nicht zu realistisch.
Ja, genau. Es ist grotesk, aber gleichzeitig nachvollziehbar: Es geht um Gewalt und gleichzeitig um Liebe. Jedes Kapitel hat ein starkes Moment eingefangen, das durch den Zeichenstil geprägt wurde. Spiegelt der Stil Ihre Empfindungen zu diesen Momenten wider?
Ja. Es war mir wichtig zu wissen, was ich in jedem Moment zeichnen wollte. Ging es mehr um Atmosphäre, wie im Wald, oder um das Erzählen mit den Figuren? Die Geschichte hat unterschiedliche Ansätze: manchmal passiv betrachtend, manchmal aktiv handelnd, und dementsprechend habe ich gezeichnet. Die aktiveren Szenen konnte ich schneller zeichnen, während atmosphärische Szenen mehr Zeit benötigten, wie etwa bei der „Königin Vontjanze“. Es war eher ein betrachtender Moment, der eigentlich nur fünf Minuten gedauert hat, aber für mich war es so, dass ich das Geschehen mit der Schnecke sehr lange betrachtet und dann einen ganzen Monat daran gezeichnet habe.
Zu Genossin Kuckuck haben viele Kritiker, auch ich, gesagt, dass es Ihr „Magnum Opus“ ist. Stimmen Sie dem zu? Was bedeutet dieses Werk für Sie und Ihre Karriere?
Es war auf jeden Fall ein gewaltiges Stück Arbeit. Danach war ich länger krank, hatte einige Unfälle und habe in letzter Zeit nicht viel gezeichnet. Es war herausfordernd, plötzlich zu sehen, dass ein Jahr vergangen ist, seit das Buch abgeschlossen ist, und ich kaum Neues gemacht habe. Ich habe mich gut erholt und arbeite jetzt an anderen Projekten. Ob ich wieder ein so umfangreiches Buch machen kann, weiß ich nicht. Was das „Opus Magnum“ betrifft – das ist mir nicht so wichtig, das sind Zuschreibungen von außen. Es war definitiv eine Menge Arbeit, weil ich nebenbei noch andere Bücher und Kunstprojekte gemacht habe. Ich würde jetzt gerne mehr mit Farbe arbeiten. Die Farbe könnte einen neuen Aspekt einbringen, der möglicherweise weniger erzählerisch ist. Ich bin sehr neugierig, was in der Wechselwirkung zwischen Bild und Text dabei entsteht.
Die letzte Frage: Ich würde gerne mehr über Ihre Perspektive auf die deutschen Comics erfahren. Sie arbeiten seit mehr als dreißig Jahren im Comic-Bereich in Deutschland und sind jetzt Professorin in Hamburg. Wie sehen Sie die Entwicklung der deutschen Comics heutzutage? Was sind Ihre Gedanken zur aktuellen Situation und zur Zukunft der deutschen Comics?
Was die Zukunft des deutschen Comics betrifft, werde ich oft gefragt, aber ich habe keine feste Meinung dazu. Ich sehe meine Studierenden und bin oft begeistert von ihren Arbeiten. Andererseits hat der Comic in Deutschland keine starke Tradition, obwohl schon viele Jahre vergangen sind. Wenn ich in Italien oder Frankreich bin, habe ich das Gefühl, dass Comics dort viel tiefer in der Gesellschaft verwurzelt sind. In Deutschland versuche ich, meinen Studierenden ein breites Spektrum zu vermitteln, damit sie vielseitig arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Ich hoffe, ich enttäusche Ihre Erwartungen damit nicht, aber für mich ist der Comic nur ein Mittel unter vielen. Mich interessieren generell Kunst, Literatur und andere Ausdrucksformen. Comics sind nur ein Teil dessen, was mich inspiriert. Aber in den letzten Jahren haben durch das Wirken so vieler engagierter junger Comickünstler:innen die Comics ihre Stellung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung verändert. Es gibt plötzlich mehrere riesige Preise, Comicförderungen, Stipendien neue Festivals und auch der Einsatz in der Schule ist wichtig geworden. Comics als Sachbücher usw. Das ist enorm, was in Deutschland gerade passiert in Sachen Comic.
Auch in Italien fragen wir uns das: Wie entwickelt sich die Comiclandschaft? Es ist immer gut, verschiedene Antworten zu bekommen. Auch die Aussage, dass Comics nicht alles sind und dass Comics von vielen verschiedenen Einflüssen inspiriert werden sollten, um etwas Neues zu schaffen, finde ich wichtig.
Ja, das fand ich sehr interessant. Ich war im März für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, und die Autorin, die den Preis gewonnen hat, hat Literatur geschrieben, die sich wie ein Comic liest. Es ist fast witzig zu nennen, wie sich der Comic plötzlich in den literarischen Medien abbildet. Aber immer noch gilt: erst wenn er sich Literatur nennt, Worte schwarz auf Weiss wird er wirklich salonfähig. Bilder sind es nur im Kunstkontext.Aber aucxh da sträuben sich immer noch die Haare. Ich erinnere mich gerade daran, dass ich Anfang der 2000er Jahre, intensiv mit amerikanischen Comics begann, was ich bis dahin nicht getan hatte. Die amerikanischen Comics der 40er und 50er Jahre, Jack Kirby und so weiter, haben mich damals sehr begeistert, insbesondere die Ästhetik. Auch wenn man das vielleicht nicht sofort in meiner Arbeit sieht, begann ich in dieser Zeit, große Kohlezeichnungen im Großformat zu machen, inspiriert von diesen Comics. Im Nachhinein erkennt man das nicht sofort; man weiß nicht, woher die Bilder stammen, aber sie sind eindeutig von diesen alten Comics beeinflusst. Diese Phase war für mich eine bedeutende Zeit der Formung. Obwohl die Zeichnungen keine Comics sind und keine Geschichte erzählen, verweisen sie auf das, was später in Genossin Kuckuck folgte. So gesehen habe ich meine eigene Kindheit und meine Erfahrungen als Frau auf die Folie der Superheldencomics gelegt und versucht, den Abstand oder die „Dicke“ zwischen diesen beiden Ebenen herauszuarbeiten.
Interview geführt via Zoom am 6. September 2024.